Anfang des letzten Jahrhunderts war das jetzige Land Berlin ein weitläufiges Gebiet mit viel Freifläche zwischen den Ortschaften. Innerhalb weniger Jahrzehnte wuchs die Zahl der Einwohner:innen durch Eingemeindungen und Bebauung von knapp zwei Millionen auf das Doppelte. Die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges und die anschließende Teilung dieser stets pulsierenden und widersprüchlichen Stadt, ließen Lücken zurück, die uns der Berliner Geschichte manchmal stärker gedenken lassen, als die dafür erbauten Mahnmale.
Wie schon Generationen von Kindern vor mir, bin ich aufgewachsen mit diesem durchlöcherten Stadtbild – und mit dem allmählichen Schwinden all der unscheinbaren Lücken und vermeintlichen Leerstellen.
Dieses offene, zuweilen fast malerisch versehrte Berlin der Nachkriegszeit mit seinem einzigartigen Charme, scheint sich allmählich zu schließen. Hier liegt der dokumentarische Moment meiner Arbeit – die letzten Brachen, die letzten Freiflächen, die letzten Erinnerungsorte, vielleicht auch die Nostalgie einer Kindheit festzuhalten.
Sobald sich der Mensch aus einem Ort zurückzieht, kehrt die Natur zurück. Die heimlichen Stars der Brachen sind die Sträucher und Bäume, die nach und nach die Fläche füllen. Im Winter, wenn sie ihre Blätter und Farben verlieren, liegt der Ort entblößt. Wir können ihn ganz ohne Ablenkungen wahrnehmen und auf uns wirken lassen.
Genius Loci bezeichnet den zurückgebliebenen Geist eines Ortes oder das Bewusstsein für vergangene, ortsgebundene Ereignisse. Das physische Motiv begrenzt durch Fassaden, Zäune, anliegende Häuser definiert den Bildausschnitt also den ‚locus‘. Den metaphysischen ‚genius‘ festzuhalten oder vielmehr im Moment der Aufnahme zu kreieren, war die eigentliche künstlerische Herausforderung.
Durch das Zusammenfügen von Bildpaaren entsteht die entschwindende Weite der Brachen wieder neu. Eine erweiterte Realität durch Montage, welche die letzten Spuren ungeschützter Erinnerung an Hybris, Krieg und Teilung offen legt.
Brachen sind Grundstücke, die weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich genutzt werden, doch in der Vergangenheit schon einmal von Nutzen waren.
Die letzten Tage einer Brache brechen an, wenn Bäume und Sträucher gerodet sind, bunte Markierungen auftauchen, Werkzeug und Maschinen bereitgestellt werden. Zusammen mit meinen Freunden bemühen wir uns beim zuständigen Landesamt darum, zumindest eine dieser Brachen unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Wie ein Fenster in die Vergangenheit soll sie auch nachfolgenden Generationen eine „Leere“ für die Zukunft sein.
Genius Loci
2018-2019